Antisemitismus entschieden entgegentreten
Ein Interview mit Dr. Oliver Arnhold zu seiner neuen Veröffentlichung:
Herr Arnhold, man hat den Eindruck, und das nicht erst seit Halle, dass man als Jüdin oder Jude in Deutschland immer wieder Antisemitismus begegnet und in letzter Konsequenz nicht sicher leben kann. Wie sehen Sie das?
,,Antisemitismus ist auch im Jahr 2020, 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, weiterhin ein gravierendes Problem. Die Corona-Krise verstärkt diese Tendenz. Verschwörungsideologen greifen auf alte Feindbilder zurück, nach denen die Juden das Virus erschaffen hätten, um die Wirtschaft lahmzulegen und finanziellen Profit daraus zu ziehen. Corona-Maßnahmen werden mit dem Holocaust gleichgesetzt, anti-israelische Aktivisten nutzen das Coronavirus als Vorwand für ihre Hassreden. Aus solch einer vergifteten Stimmung heraus kann es im schlimmsten Fall zu Taten wie in Halle kommen, wo wir Tote zu beklagen haben.''
Was können wir dagegen tun?
„Vom amerikanischen Philosophen und Dichter George Santayana ist die Aussage überliefert: „Wer sich des Vergangenen nicht erinnert, ist verurteilt, es noch einmal zu erleben.“ Deshalb ist es wichtig, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen und Erinnerung wachzuhalten. Zum Beispiel an das sogenannte „Entjudungsinstitut“ im Nationalsozialismus: Von 1939 bis 1945 bestand in Eisenach ein kirchliches Institut, das sich zur Aufgabe machte, die christliche Kirche und Theologie zu „entjuden“. Walter Grundmann, Professor für Neues Testament in Jena, nutzte die antisemitische Stimmungslage nach dem Novemberpogrom 1938, um seine Idee eines kirchlichen „Entjudungsinstituts“ voranzutreiben. Grundmann, der das Institut als konsequente Weiterführung des bereits von Luther vertretenen Antijudaismus beschrieb, überzeugte mit seinem Konzept elf evangelische Landeskirchenleitungen. Sie besiegelten am 4. April 1939 die Gründung. Daraufhin wurde das kirchliche „Entjudungsinstitut“ am 6. Mai 1939 mit einem Festakt auf der traditionsbeladenen Wartburg eröffnet.“
Wer war dort tätig und worum ging es genau?
„Für die wissenschaftliche Institutsarbeit wurden bis 1941 etwa 180 Mitarbeiter, darunter 24 Universitätsprofessoren von 14 evangelisch-theologischen Fakultäten, zur ehrenamtlichen Gemeinschaftsarbeit in Arbeitskreisen und an Forschungsaufträgen sowie zu Publikationstätigkeiten gewonnen. Insgesamt 43 Forschungsaufträge und Arbeitskreise zielten darauf ab, jüdische Elemente aus Theologie und Kirche in Deutschland zu entfernen. Dabei wurde der Gegensatz zwischen christlicher und jüdischer Religion sowie die Überlegenheit der arischen gegenüber der jüdischen Rasse stets betont. Anfang 1940 erschien ein vom Institut herausgegebenes „entjudetes“ Neues Testament, im Juni 1941 ein „entjudetes“ Gesangbuch und ein „entjudeter“ Katechismus, die in den Landeskirchen eingeführt werden sollten. Grundmann versuchte zudem, eine nichtjüdische Herkunft Jesu wissenschaftlich nachzuweisen.“
Was fällt besonders auf?
„Bemerkenswert ist, dass hier ohne jeglichen Zwang von Seiten des NS-Staates mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit auf der Basis eines Konsenses von führenden Theologen der Versuch unternommen wurde, Kirche und Theologie zu „entjuden“, um sie der Ideologie des Nationalsozialismus anzupassen. Gleichzeitig wurden die deutschen und europäischen Juden zunächst ausgegrenzt und verfolgt und dann in den Vernichtungslagern ermordet.“
Wie konnte es zu dieser Entwicklung in der evangelischen Kirche kommen?
„Der Antisemitismus der Institutsmitarbeiter konnte auf eine über Jahrhunderte währende Tradition von christlichem Antijudaismus in Theologie und Kirche aufbauen.
Der Soziologe Albert Scherr kommt in der Expertise „Verbreitung von Stereotypen über Juden und antisemitische Vorurteile in der evangelischen Kirche“ (2011) zu dem Ergebnis, dass „die christlichen Kirchen in Westdeutschland keinen nachweisbaren Einfluss auf ihre Mitglieder haben, der dazu führen würde, dass diese weniger antisemitisch sind als der Bevölkerungsdurchschnitt bzw. Nicht‐Religiöse“. Eine mögliche Ursache für diesen Befund könnte auch diesen Grund haben: Mit Denkstrukturen in Bezug auf das Judentum aus der Zeit vor 1945 wurde auch in kirchlicher Predigt und Theologie nicht eindeutig gebrochen. Diese blieben nach Kriegsende weiterhin wirkmächtig. Daher sind die theologischen Bemühungen zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden längst nicht abgeschlossen. Sie müssen weitergeführt werden.“
In welche Richtung sollte der Lernprozess gehen?
„Lernen aus der Geschichte bedeutet für Christen die Erkenntnis, dass das Christentum nicht der „unüberbrückbare Gegensatz zum Judentum“ ist, wie es von den Mitarbeitern des Eisenacher „Entjudungsinstituts“ vertreten wurde. Vielmehr ist das Judentum die Wurzel, die das Christentum trägt. Auch deshalb ist es Christenpflicht, jeglicher Form von Antisemitismus entschieden entgegenzutreten.“
Buch zum Thema: Oliver Arnhold, „Entjudung“ von Theologie und Kirche. Erscheint im Herbst 2020 in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig, vorbestellbar unter: https://www.eva-leipzig.de/product_info.php?info=p4980_-Entjudung--von-Theologie-und-Kirche.html
Oliver Arnhold ist u.a. Lehrer am Christian-Dietrich-Grabbe-Gymnasium Detmold und Dozent für Religionspädagogik und kirchliche Zeitgeschichte an den Universitäten Bielefeld und Paderborn. Dozent für Religionspädagogik und kirchliche Zeitgeschichte an den Universitäten Bielefeld und Paderborn
14.09.2020