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17.03.2004

Niemand braucht so viel Brutalität

Pressemitteilung: Passion Christi

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Zeugen der Kreuzigung: Maria Magdalena und Schriftgelehrte.

Nur wer den Zuschauer über eine gewisse Grenze hinaus erschüttere, könne die enorme Größe des Opfers Christi begreiflich machen. Sagt der Regisseur Mel Gibson. Wie empfinden Sie diesen Satz nach den gestrigen Bildern?
Andreas-Christian Tübler: Ich bin erschüttert gewesen. Ich halte dieses Zitat im Prinzip für richtig, weil der Zuschauer durch Grenzerfahrungen und -überschreitungen in ein Thema hinein geführt werden soll. Ob das allerdings in dieser Massivität und Brutalität – wie es Mel Gibson deutlich beabsichtigt – sein muss, stelle ich in Frage. Von der schonungslosen Darstellung, die meiner Meinung nach durchaus aus einem christlichen Verständnis von Mel Gibson herrührt, war ich persönlich sehr bedrückt am Ende des Films.
Andreas Duderstedt: Dass einen der Film mit seinen Bildern trifft, ist klar. Ich habe mehrmals die Augen zugemacht. Aber niemand braucht diese endlose Monotonie der Brutalität, um die Einzigartigkeit des Lebens und Sterbens Jesu zu begreifen. Bezogen auf die Grenzerfahrung glaube ich, dass es hier fast wie ein Rekord erscheint, den man erreichen will. Noch mehr Brutalität, noch mehr schonungslos gezeigte Grausamkeit... Führt die Überwindung einer Grenze nicht zur nächsten Grenze? Das relativiert natürlich den Sinn einer Grenzerfahrung, so schlimm und schrecklich dieser Film auch ist.

Die Gewaltdarstellungen sind das zentrale Thema in den Kritiken. Aber es gibt doch während des Films immer wieder fragmentarische Rückblicke – auf die Bergpredigt oder das Abendmahl. Diese Brüche strahlen inmitten des Folterszenarios unglaubliche Ruhe aus. Warum werden diese Elemente kaum diskutiert?
Tübler: Weil diese Rückblicke in meiner Wahrnehmung zumindest als Stilmittel geschickt inszeniert werden, um die Brutalität noch brutaler erscheinen zu lassen. Diese kunstvoll arrangierten Elemente dienen lediglich als Beiwerk, das die Passionsgeschichte hervorheben soll. Sie haben aber keine eigene Wirklichkeit, keine eigene Wirkmacht.
Duderstedt: Ich sehe das ähnlich. Sie verstärken den Eindruck der Gewalt in dem Film, der als Kernbotschaft das unglaubliche Leiden Jesu darstellt. Als Zuschauer wird man entweder gezwungen dieses Leiden fast körperlich mitzuempfinden - oder man müsste auf der Seite der geifernden und quälenden Masse stehen. Das will kein Zuschauer. Also hat er keine Entscheidung. Das ist auch das Ziel des Films: Der Zuschauer soll mitleiden, soll sich kasteien wie die mitelalterlichen Geißelbrüder. Spätestens seit Luther wissen wir, dass wir das nicht brauchen.
Tübler: Man ist nicht in der Lage, sich davon zu distanzieren. Durch die vielen Groß- und Detailaufnahmen wird man unmittelbar an dem Geschehen beteiligt. Es hat tatsächlich den Anschein, als wolle Mel Gibson suggerieren, dass möglicherweise wir als Zuschauer verantwortlich sind für den Tod Christi. Und das kann ich überhaupt nicht akzeptieren. Der Film gibt nicht die Möglichkeit, eine eigene Entscheidung zu treffen, die Passionsgeschichte aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Es wird eine Mitschuld suggeriert.

Bei aller Gewalt habe ich bei „Die Passion Christi“ einen eigentümlichen Bruch mit den Stereotypen aus Gut und Böse festgestellt. Das Element der Rache für eine Ungerechtigkeit, die einem Unschuldigen angetan wird, fehlt – anders als bei üblicher filmischer Dramaturgie – völlig. Stattdessen bekamen für mich die Begriffe Vergebung und Barmherzigkeit eine besondere Kraft. Haben Sie das ähnlich empfunden?
Tübler: Es gibt Bilder in den Rückblenden, in Pastelltönen, die diesen Eindruck entstehen lassen. Und in dem Ausdruck Jesu selbst, der von der schauspielerischen Leistung sicherlich zu würdigen ist. Aber für mich wird das von der ständigen Brutalität der Bilder überlagert. Es wird immer wieder auf Jesus eingeschlagen.
Duderstedt: Für mich war der Film gnadenlos, trotz der Worte des Gekreuzigten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Ein Gipfel dieser Gnadenlosigkeit ist die Szene, als eine Krähe dem gekreuzigten, reuelosen Schächer ein Auge aushackt. Hier wird das Zweifeln sofort physisch bestraft. Die Szene steht übrigens in keinem Evangelium.

Mel Gibson hat tatsächlich die Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes mit den Angaben aus historischen Quellen zu einer Passionsgeschichte vermischt. Muss ihm dies als entscheidender Fehler vorgehalten werden?
Tübler: Der entscheidende Fehler besteht darin, dass er in einem möglichst historisch-dokumentarisch erscheinenden Film über die letzten zwölf Stunden Jesu theologische Aussagen machen will. Das ist ein grundlegend falscher Ansatz. Es ist irrig zu meinen, dass, wenn man genau weiß, wie ein Mensch gestorben ist, auch gleichzeitig eine inhaltliche Aussage über die Bedeutung seines Lebens machen kann. Mel Gibson glaubt, durch das Recherchieren von historischen Bruchstücken – bis hin zum Turiner Grabtuch – die Glaubensaussage des Evangeliums deutlicher nach vorne bringen zu können. Das ist sein Irrweg und zum Scheitern verurteilt. Er vermischt unzulässig historische mit theologischen Kategorien.
Duderstedt: Es ist vermessen zu glauben, man könne „just the way it happened“, wie Mel Gibson sagte, das Evangelium verfilmen. Selbst wenn wir eindeutige Dokumente über die Ereignisse besäßen, ginge es nicht, weil wir heute, nach 2000 Jahren, mit anderen Augen sehen und anderen Ohren hören. Beispiel: Es wirkt in dem Film eine suggestive Hollywood-Musik, die den Ereignissen eine extrem subjektive Färbung verleiht.
Abgesehen davon hat Mel Gibson viel erfunden für seine Geschichte der letzten zwölf Stunden Jesu – wie die Figur des Teufels oder die Krähe. Das passt überhaupt nicht zu dem Anspruch, das Evangelium quasi dokumentarisch zu verfilmen. Aus dem Evangelium kann man keine Reality-Show machen.

Macht es den Film möglicherweise auch verdächtig, dass er im Dunstkreis Hollywoods entstanden ist? Ist das eine Hypothek für dieses große Thema?
Tübler: Hollywood oder nicht, das macht für mich nur einen graduellen Unterschied. Wenn man sich aber Hollwood-Filme der vergangenen 50 Jahre anschaut, die historische Themen behandelten, so sind diese Streifen zwar kitschig, aber sie haben auch nur eine Nacherzählung geliefert. Das will dieser Film nicht. Und was der Zuschauer dabei erlebt, ist eine Obszönität der Gewalt.

Kino ist ein Leitmedium der Gegenwart. Besteht die Chance dieser medienwirksamen Verfilmung darin, dass die Menschen wieder auf die Evangelien neugierig gemacht werden?
Duderstedt: Letztlich muss jeder erwachsene Mensch selbst entscheiden, ob er diese Bilder sehen will. Sich mit der Bibel auseinander zu setzen wäre sicher die beste Konsequenz aus diesem Film.
Tübler: Aber man muss ihn in der Wahrnehmung filtern und einsortieren können.

Sollte der Film in den Gemeinden thematisiert werden?
Tübler: Man muss in jedem Fall darüber sprechen, sonst könnte sich ein Trauma entwickeln. Ich würde den Film nicht empfehlen, aber falls sich Gemeindeglieder dafür entscheiden, ihn anzusehen, sollte es unbedingt ein Gesprächsangebot für die Aufarbeitung geben.
Duderstedt: Doch es braucht niemand diesen Film, um in seinem Glauben bestärkt zu werden. Dafür ist die Entscheidung, ins Kino zu gehen, absolut nicht nötig.

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