Aus Wandern wird Pilgern
Zwei Jakobspilger berichteten ihre spirituellen Grenzerfahrungen
Tobias Graf war im Frühjahr 2004 in mittelalterlicher Tracht von Norderstedt bei Hamburg durch Nordwestdeutschland, Belgien und Frankreich nach Santiago gewandert. Er übernachtete in Pfarrhäusern, Klöstern und Pilgerherbergen, wodurch sich niedrige Reisekosten ergaben. 154 Euro habe er während seiner Pilgerschaft ausgegeben. Tobias Graf: „Als Pilger wollte ich demütig und bescheiden leben.“ Die 3500 Kilometer legte er in dreieinhalb Monaten zurück. Für den Heimweg mit dem Bus nach Schleswig-Holstein benötigte er lediglich 38 Stunden.
Johannes Forthaus pilgerte im Sommer 2003 auf dem berühmten „Camino“ (Weg) von der spanisch-französischen Grenze nach Santiago de Compostela. Der damals 62-jährige Schiederaner benötigte vier Wochen für die knapp 800 Kilometer lange Strecke. Übernachtet wurde meistens in einer der zahlreichen Pilgerherbergen (Albergue de Peregrino) entlang der Strecke, wo sich die Reisenden nach einem anstrengenden Tag abends beim „Menu de Peregrino“ (Nudeln oder Kartoffeln, Fleisch sowie Wasser und Wein) stärken.
Sowohl für Tobias Graf wie für Johannes Forthaus war ihre lange Fußreise verbunden mit horizonterweiternden Erfahrungen und einem Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt. Graf hatte wenige Monate vor seiner Pilgerschaft eine Gärtnerlehre abgeschlossen und stand vor der Frage, welchen Verlauf sein zukünftiges Leben nehmen sollte: „Ich wusste nicht: Wollte ich als Gärtner arbeiten oder studieren oder ‚irgendwie missionarisch’ tätig sein?“ Für den Gärtnerberuf bzw. das Studium hätten die damit verbundenen Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten sowie seine Liebe zur Natur gesprochen. Um seines Glaubens willen hätte er aber ebenso gern eine „missionarische“ Ausbildung begonnen. Je länger seine Jakobspilgerschaft gedauert habe, desto unwichtiger seien ihm Geld und Gut geworden, berichtete Tobias Graf seiner Zuhörerschaft in der Theologischen Bibliothek. Gottes Zusage jedoch, dass er niemanden auf seinem Weg verloren gehen lässt, sei dem jungen Mann zunehmend deutlicher und wichtiger geworden. Insofern habe ihn der Jakobsweg nicht nur nach Santiago, sondern auch in einen neuen Lebensabschnitt geführt. Heute besucht der junge Mann die missionarisch-diakonische Ausbildungsstätte Malche in Porta Westfalica und lässt sich dort zum Gemeindepädagogen ausbilden.
Johannes Forthaus trat seine Pilgerreise an vor dem Hintergrund seines nahenden Ruhestands. Als Lehrer, der u.a. fünf Jahre in Spanien unterrichtet hatte, wollte Forthaus seine Kenntnisse der spanischen Kunst und Kultur während seiner vierwöchigen Wanderung vertiefen. Aus Wandern sei bald Pilgern geworden. Das ruhige Betrachten der den Camino säumenden romanischen Kirchen, meditative Einkehrgebete in verschiedenen Klöstern und bewegende Gespräche mit anderen Pilgern hätten ihm spirituelle Grenzerfahrungen ermöglicht, die im „normalen“ Alltag kaum möglich seien. Johannes Forthaus: „Ich hatte viel Gelegenheit, darüber nachzudenken, was meiner Meinung nach wesentlich und was unwesentlich ist. Da - beruflich gesehen - meine Altersteilzeit begonnen hatte, machte ich mir viele Gedanken darüber, was mein eigentliches Lebensziel sei.“ So abgegriffen das Schlagwort „Der Weg ist das Ziel“ auch sei, für Jakobspilger behalte es seine Gültigkeit.
Johannes Forthaus als getaufter Katholik und der evangelische Tobias Graf stimmten darin überein, dass es kein evangelisches und kein katholisches Pilgern gebe. Konfessionsunterschiede verlören ihre Bedeutung angesichts der während des Pilgerns erlebten Spiritualität.
Landespfarrer Tobias Treseler, der Vortrag und Publikumsdiskussion moderierte und der im Jahr 2002 auf dem Jakobsweg gepilgert war, pflichtete hierin seinen beiden Gästen bei. Ihm, so Treseler, seien sogar Pilger aus Indien begegnet. Die aus diesen Begegnungen herrührenden Einsichten hätten ihn gelehrt, dass dem gemeinsamen Pilgern und dem gemeinsamen Erleben eine Kraft innewohne, die dem interreligiösen Gespräch förderlich sei.
12.11.2007