„Die europäische Friedensordnung ist Vergangenheit“
Detmolder Marktplatzgespräch über die „Zeitenwende“ seit dem Ukrainekrieg
Für den Politologen und Historiker Dr. Markus Kaim (Berlin) ist klar: „Die europäische Friedensordnung der letzten 30 Jahre ist Vergangenheit.“ Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, territoriale Integrität, Verzicht auf militärische Gewalt – all dies gebe es mit Russland nicht mehr. Er habe „wenig Hoffnung, dass die europäische Friedensordnung kurz- oder mittelfristig wiederkommt“. Die politische Priorität liege jetzt eindeutig auf Landesverteidigung, denn mit dem Angriffskrieg gegen das Nachbarland sei die „Großmacht- und Großraumpolitik“ Russlands endgültig zum Durchbruch gekommen. Die EU, die immer das Gegenmodell dazu war, stehe nun vor der Frage, wie sie sich dazu verhalte: „In welchem Umfang muss Europa sicherheitspolitische Verantwortung für sich selber tragen?“, fragte Kaim, der in der unabhängigen Stiftung Wissenschaft und Politik zur Forschungsgruppe „Sicherheitspolitik“ gehört. Noch in den neunziger Jahren habe mit dem Prinzip „Wandel durch Annäherung“ die Hoffnung bestanden, dass sich ein Russland, das mit dem Westen Handel treibt, im westlichen Sinne „transformieren“ lasse – „eine trügerische Hoffnung“. Und die Abschreckung, auch mit Atomwaffen? „Ich sehe Abschreckung in Verbindung mit Solidarität“, sagte der Wissenschaftler. Ein Beispiel: Die Bundeswehr habe die Sicherheit Litauens an die Sicherheit Deutschlands gekoppelt. „Die Botschaft lautet: Ihr seid uns nicht egal.“
Auch Robin Wagener, lippischer Bundestagsabgeordneter der Grünen, sieht die Abschreckung durch die Nato als Hinderungsgrund für Putin, die baltischen Staaten anzugreifen. Die Zeitenwende sei ein Entwicklungsprozess, ein Wahrnehmen der Realität, die nicht erst seit dem 24. Februar 2022 vorhanden war, sondern schon seit 2014, als Russlands offene Aggression gegen die Ukraine begann. „Für unsere Werte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sterben Menschen wenige Stunden von hier entfernt.“ Der Politiker gehört dem Auswärtigen Ausschuss an und ist Vorsitzender der ukrainisch-deutschen Parlamentariergruppe im Bundestag. „Die Ukrainer sagen uns: Unser Weg in die Demokratie ist unumkehrbar – wir kämpfen dafür, weil wir nicht in einer Diktatur leben wollen.“ Er unterstützt Waffenlieferungen an die Ukraine, auch wenn er weiß: „Militärische Gewalt schafft keinen Frieden – das Einzige, was wir militärisch erreichen können, ist eine Lage, in der wir gemeinsam mit anderen dafür arbeiten, dass Frieden entsteht.“
Moderator Dieter Bökemeier, Landespfarrer für Diakonie, Ökumene und Migration, hatte eingangs gesagt, dass er immer Frieden ohne Waffen angestrebt habe. Doch „nun sehe ich mich plötzlich auf der Seite derer, die Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten“. Ob das allerdings auch heiße, in der eigenen Verteidigung mehr auf Abschreckung zu setzen, das sei zu fragen. Pfarrer i.R. Christian Brehme, den der Moderator ein „Urgestein der Friedensbewegung“ in Lippe nannte, ist Friedensbeauftragter der Lippischen Landeskirche. „Gerechten Frieden“ können wir Menschen nicht machen, sagte Brehme und verwies auf die biblische Aussage: „Christus ist unser Friede“. „Wir sind aufgefordert, mit aller Klugheit für Frieden einzutreten.“ Der Traum von einer atomwaffenfreien Welt dürfe kein Traum bleiben. Der Friedensbeauftragte lud zum Aktionstag am 25. Juni in Büchel/Eifel ein. Im dortigen Fliegerhorst befinden sich 20 amerikanische Atombomben. „Die Drohung Putins, Atomwaffen einzusetzen, machen die Dringlichkeit und Notwendigkeit, für die Abschaffung der Atomwaffen einzutreten, zwingend deutlich“.
31.05.2022