Geschichte der Lippischen Landeskirche
Vor der Reformation unterstand der nördliche Teil der Grafschaft Lippe dem Bischof von Minden, der südliche dem von Paderborn. Im 16. Jahrhundert erreichten die reformatorischen Gedanken Martin Luthers schon früh Lemgo, die damals größte Stadt des Landes. 1533 wurde in Lemgo eine evangelische Kirchenordnung eingeführt. 1538 gab es eine evangelische Kirchenordnung für die Grafschaft Lippe.
Die inhaltliche Neuausrichtung der lippischen Kirche war damit aber noch lange nicht abgeschlossen. Vielmehr entwickelte sich eine Kirche, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts maßgeblich von der Lehre Martin Luthers und den lutherischen Bekenntnisschriften geprägt war.
Nach Regelung des Augsburger Religionsfriedens von 1555 oblag es dem jeweiligen Landesherrn, über Konfession, Bekenntnis und Lehre der Kirche in seinem Land zu entscheiden. Graf Simon VI. (1554-1613) nahm dieses Recht Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts beherzt in Anspruch. Unter seiner Regierung wurden mehrere Neuerungen in der Lippischen Kirche eingeführt, die eine Hinwendung zu den Inhalten der schweizerischen Reformation und der Lehre Ulrich Zwinglis bzw. Johannes Calvins bedeuteten. Im Zentrum stand dabei die Auseinandersetzung um das Verständnis des Abendmahls.
- Nach lutherischer Lehre ist Jesus Christus während der Feier leiblich in Elementen Brot und Wein gegenwärtig.
- Nach reformierter Auffassung bezeugen Brot und Wein die geistige Gegenwart Gottes in der Gemeinschaft der Gemeinde. Äußerlich sichtbar wird der Unterschied darin, dass nach reformiertem Brauch in der Abendmahlsfeier keine Oblaten verwendet werden. Vielmehr wird ein „normaler“ Laib Brot miteinander geteilt.
Am 2. Juni 1605 nahm Graf Simon VI. mit seiner Familie an einer nach reformierter Lehre gestalteten Abendmahlsfeier in der Detmolder Marktkirche teil. Damit verbunden war die Aufforderung, diese Änderung auch in den anderen lippischen Gemeinden einzuführen. Das stieß vor allem in Lemgo auf Widerstand. Der Konflikt eskalierte im Jahr 1609, als es beinahe zu einer militärischen Auseinandersetzung gekommen wäre. Zu einer juristischen Einigung kam es aber erst 1617, als in dem „Röhrentruper Rezeß“ der Stadt Lemgo das Recht eingeräumt wurde, die kirchlichen Angelegenheiten innerhalb der Stadtmauern selbständig zu regeln. Auf dieser Grundlage verfestigte sich in den folgenden Jahren und Jahrhunderten die zweikonfessionelle Struktur der Lippischen Kirche: lutherisch in Lemgo, reformiert im übrigen Land.
Es hat bis ins 19. Jahrhundert gedauert, bis diese Grenzen allmählich gelockert wurden. Im Jahr 1854 wurden die reformierte, lutherische und katholische Konfession offiziell gleichgestellt. Dadurch bekamen auch die Katholiken in Lippe das Recht, Gemeinden zu gründen und Kirchen zu bauen. 1882 schlossen sich die lutherischen Gemeinden der Synode an. Am 1. November 1883 hat der erste lutherische Klassentag in Lemgo getagt. Am 31. Oktober 1888 wurde mit Pfarrer Adolf Vorberg von der Lemgoer Kirchengemeinde St. Marien der erste lutherische Superintendent gewählt.
Erst 1973 wurden mit der „Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa“ die gegenseitigen Lehrverurteilungen zwischen den beiden evangelischen Konfessionen überwunden. Seither gibt es auch die gegenseitige Einladung, an Gottesdiensten und Abendmahlsfeiern trotz bestehender Unterschiede in der Lehrauffassung teilzunehmen. Die Lippische Landeskirche war die erste Kirche Europas, die die Konkordie unterzeichnet hat.
Worin liegen heute die wesentlichen Unterschiede zwischen lutherischer und reformierter Theologie?
Zunächst einmal gilt: beide evangelische Konfessionen teilen die reformatorische Erkenntnis, dass Gott jeden Menschen aus freier Gnade liebt. Kein Mensch kann sich diese Liebe verdienen, erarbeiten oder aneignen.
Auf Grundlage dieser gemeinsamen Überzeugung besteht das Zentrum der lutherischen Theologie darin, sich dieser Zusage Gottes immer wieder neu zu vergewissern. Im Gottesdienst geschieht das im Zusammenspiel von festlicher Liturgie, Predigt und Feier des Abendmahls. Gottes leibliche Gegenwart als Ausdruck seiner Liebe wird darin jedem einzelnen Menschen zuteil.
Der reformierte Gottesdienst ist demgegenüber stärker von dem Gedanken geprägt, im gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes im Glauben gestärkt zu werden und im Erleben der christlichen Gemeinschaft die Nähe Gottes zu erfahren. Die Gestaltung reformierter Gottesdienste ist dementsprechend stärker auf die Predigt und das Abendmahl als Gemeinschaftsfeier ausgerichtet. Erstes Anliegen der Gemeinde ist dabei, Gott für das Geschenk seiner Liebe zu danken und ihm Ehre zu erbringen. Aus dem Erleben der Gemeinschaft und dem Hören auf Gottes Wort erwachsen gegenseitige Stärkung, Trost und Kraft zum Leben.
Diese verschiedenen Schwerpunkte führen zu unterschiedlichen Prägungen des Gemeindelebens:
- So betont die reformierte Lehre die besondere christliche Verantwortung für Organisation und Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens. Dabei steht der Bezug zur Ortsgemeinde an erster Stelle. Hier ereignet sich kirchliches Leben mit all seinen regionalen Bezügen und Besonderheiten. Gerade in reformierten Gemeinden gibt es daher eine immense Vielfalt an Gemeindeformen, Gottesdienstformen und Bekenntnisschriften.
- Demgegenüber sind Lehre und Leben in lutherischen Gemeinden etwas einheitlicher geprägt. Es gibt mit dem Konkordienbuch eine weltweit verbindliche Sammlung von Bekenntnisschriften. Außerdem haben viele lutherische Kirchen einen Bischof bzw. eine Bischöfin an ihrer Spitze, der bzw. die in theologischen und liturgischen Fragen eine den Gemeinden übergeordnete Instanz bildet. Der Bischof repräsentiert die Kirche als Gesamtheit und trägt für die Einhaltung der reinen lutherischen Lehre in seinem Gebiet Verantwortung. In Lippe übernimmt diese Funktion in geistlichen und theologischen Belangen der Superintendent der lutherischen Klasse.
Neben der besonderen, historisch gewachsenen und in dieser Form einmaligen konfessionellen Prägung der Lippischen Landeskirche gibt es in der Geschichte der Landeskirche einige markante Wegmarken, die an dieser Stelle kurz erwähnt werden sollen:
Fürstin Pauline zur Lippe (1769-1820) |
- Zur Zeit der Aufklärung gab es eine heftige Kontroverse um die Inhalte des Religionsunterrichtes. Im Zentrum des sog. „Katechismusstreites“ stand dabei der „Leitfaden für den Religionsunterricht in den Schulen" von Ferdinand Weerth, der von 1811 bis 1856 in den reformierten Gebieten den Heidelberger Katechismus ersetzte. Aufgrund des massiven Protestes gegen den „Leitfaden“ aus Kreisen der Erweckungsbewegung wurde 1858 der Gebrauch des Heidelberger Katechismus verbindlich festgeschrieben.
- Bereits zuvor hatte es unter Fürstin Pauline zur Lippe (1769-1820) einen intensiven Aufbau verschiedener sozial-diakonischer Einrichtungen gegeben, die zum Teil bis heute bestehen und die Entwicklungen der Diakonie in Lippe maßgeblich beeinflusst und geprägt haben.
- Die über Jahrhunderte tragende und prägende enge Verbindung zwischen Kirche und lippischem Fürstenhaus endete 1918 mit der Abdankung Fürst Leopold IV. Der neu eingerichtete Landeskirchenrat übernahm die zuvor dem Landesherrn zugeordneten Kompetenzen.
- Die Lippische Landeskirche nahm während der Amtszeit von Landessuperintendent D. Wilhelm Neuser (1936-1958) zahlreiche von den Nationalsozialisten verfolgte Pfarrer und Vikare aus anderen Landeskirchen in Lippe auf. Gleichwohl wissen wir, dass auch die Lippische Landeskirche in dieser Zeit nicht entschieden genug gegen Unrecht, menschenverachtende Gewalt, Krieg und Verfolgung unschuldiger Menschen eingetreten ist. Die Annahme des „Stuttgarter Schuldbekenntnisses“ von 1946 war seinerzeit erster Ausdruck dieser bitteren Erkenntnis.
- In der Nachkriegszeit entstanden in Lippe zahlreiche neue Gemeinden. Die Verfassung macht deutlich, dass sich die Kirche auch heute von der Gemeinde her versteht. Die Synode ist das höchste Entscheidungsorgan. Der aus haupt- und ehrenamtlich tätigen Menschen zusammengesetzte Landeskirchenrat führt die Geschäfte zwischen den Zusammenkünften der Synode. Dabei hat die Landeskirche vor allem gemeindeübergreifende Aufgaben wahrzunehmen, unter anderem in den Bereichen Diakonie, Bildung, Schule, Ökumene und Verwaltung.
Die Landessuperintendenten der jüngsten Zeit sind:
Dr. h.c. Udo Smidt (1959-1970)
Dr. Fritz Viering (1970-1979)
Dr. Ako Haarbeck (1980-1996)
Dr. h.c. Gerrit Noltensmeier (1996-2005)
Dr. Martin Dutzmann (2005-2013)
Dietmar Arends (seit 2014)
Dr. Bartolt Haase