Frank-Walter Steinmeier sprach auf Einladung der Lippischen Landeskirche über „Ist Umkehr möglich – oder sind wir auf dem Weg in die gnadenlose Gesellschaft?“

Ist Umkehr möglich?

Frank-Walter Steinmeier sprach zum Thema „Schuld“

Kreis Lippe/Detmold. Es herrschte großer Andrang: Etwa 430 Besucher waren zum Abend mit Dr. Frank-Walter Steinmeier, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und ehemaliger Außenminister, in die Stadthalle gekommen. Der gebürtige Lipper Steinmeier sprach auf Einladung der Lippischen Landeskirche zum Thema „Ist Umkehr möglich – oder sind wir auf dem Weg in eine gnadenlose Gesellschaft? Vom Umgang mit Schuld im öffentlichen Raum.“

„…und vergib uns unsere Schuld“ ist das Jahresthema der Landeskirche, erläuterte Landespfarrer Tobias Treseler zu Beginn. Es habe auch im evangelischen Raum einen moralisierenden, Angst machenden Gebrauch der Begriffe Schuld und Sünde gegeben. Dieser falsche Gebrauch habe Menschen verkrümmt und seelisch deformiert: „Das lehrt uns als Kirche, sensibel und aufrichtig mit dem Thema umzugehen. Wenn wir von Schuld und Vergebung sprechen, suchen wir nicht nach Schuldigen. Sondern wollen uns nachdenklich mit anderen auf den Weg machen, damit Wege zur Versöhnung sichtbar werden, bei Einzelnen, in Dörfern, Städten, an den konkreten Orten unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit.“ Zu eigener Schuld zu stehen, befreie zu neuen Aufbrüchen – im eigenen Leben und im Zusammenleben einer Gemeinschaft. Martin Luther habe das die „Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden“ genannt. Ein Mensch sei ohne jede Vorleistung von Gott akzeptiert und habe die Chance des Neuanfangs aus schuldhaften Verstrickungen heraus.
Frank-Walter Steinmeier zeigte sich überzeugt: „Erst in einer Gesellschaft, die vergibt, wird verantwortliches Handeln möglich.“ Ohne Vergebung gebe es keinen Neuanfang, kreise man immer wieder um vergangenes Tun, zwischen Selbstzweifel und Selbstrechtfertigung. „Eine Gesellschaft, die ohne Vergebung und Gnade lebt, ist zum Untergang verurteilt.“ Dann werde bald keiner mehr den Mut haben, Verantwortung zu übernehmen, sich einzumischen, schwierige Entscheidungen zu fällen und Unpopuläres zu tun. „Verantwortliche Politik“ nennt Steinmeier das in seinem Bereich: „Nach meiner Auffassung erweist sie sich darin, dass man nicht nur kurzfristig und situativ handelt, sondern einen Kompass hat, dass man weiß, in welche Richtung unser Land und Europa gehen soll, damit am Ende nicht wirklich die gnadenlose Gesellschaft steht.“ Das bedeute auch, kurzfristig Unpopuläres zu tun, so wie die Agenda 2010. Man müsse sich immer wieder klar vor Augen führen: „Wo ständen wir heute mit der Arbeitslosigkeit, bei der Verschuldung? Wie hätten wir die Krise 2008 so gut überstehen können, ohne das, was 2003/2004 gelungen ist?“ Verantwortliche Politik handle nicht nur im Horizont bis zur nächsten Bundestagswahl. Sie schaue vielleicht auch nicht 100 Jahre voraus: „Aber die nächsten 10, 20 Jahre sollte sie schon im Blick haben.“ Das gelte heute für die Finanzmarktkrise: „aus meiner Sicht eine Phase, in der Politik und Demokratie sich bewähren müssen, um Spielräume zurückzuerobern von den Märkten“, für die demographische Entwicklung und damit das umlagefinanzierte Rentensystem oder auch Umwelt- und Klimaschutz: „Nichthandeln ist in solchen Situationen keine Option. Ein Christenmensch kann sich nicht raushalten aus dem Getümmel.“ Aber eins sei auch klar. Solange es Menschen seien, die Politik machten, werde es Fehler geben. Dazu zu stehen gehöre zur Verantwortung von Politik.
„Ist Umkehr möglich – oder sind wir auf dem Weg in eine gnadenlose Gesellschaft?“ Steinmeier mag es so groß nicht aufhängen und empfiehlt: „Lassen Sie uns den Weg fortsetzen, den unser Land seit 50 Jahren ganz erfolgreich gegangen ist. In Verantwortung vor Gott und den Menschen, als soziale Demokratie, die Reformen nicht scheut, als verlässlicher europäischer Partner, als Land, das offen ist für die Welt. Wenn wir diesen Weg gehen, wird am Ende nicht die gnadenlose Gesellschaft stehen.“

29.05.2010